Anmerkungen zur
‚interkulturellen Kompetenz’
Es wäre zu
wünschen, dass ‚interkulturelle Kompetenz’ in Kindergärten, Schulen und
Ausbildungsstätten, in Jugend- und Kulturzentren, in den sozialen Diensten, im
Gesundheitswesen, in den Betrieben und Behörden und in vielen anderen Bereichen
des Alltags, in denen Menschen täglich kommunizieren, vorhanden wäre. Manche
Missverständnisse könnten vermieden, viele schlummernde humane Ressourcen
geweckt werden. Aber ‚interkulturelle Kompetenz’ ist nicht nur zu wenig
vorhanden, es ist auch recht unklar, was darunter zu verstehen ist. Zugleich
läuft ‚interkulturelle Kompetenz’ als Schlagwort Gefahr zu einem modischen
Allerlei zu verkommen (vgl. Auernheimer 2002, S. 1). Hinzu kommt die
Schwierigkeit sowohl für die Theorie als auch für die Praxis, einerseits die
Unterschiedlichkeit der Menschen und die sog. ‚kulturelle Fremdheit’ ins
Zentrum der Überlegungen und der Handlungsstrategien zu stellen und
gleichzeitig dieses Anderssein nicht zu stark zu betonen und damit erneut zum
Ausgangspunkt von Vorurteilen und Ausgrenzung zu machen.
Wenn wir von
‚Kultur’ sprechen, müssten wir eigentlich eine genaue Definition liefern. In
der Literatur findet man Kulturbegriffe wie Sand am Meer. An dieser Stelle kann
ich mich dem Thema daher nur annähern. ‚Kultur’ ist meines Erachtens nichts
Statisches, also eigentlich auch nicht oder kaum messbar. Eine
allgemeinverbindliche Definition ist bisher niemandem gelungen. ‚Kultur’ hat
etwas prozesshaftes, ist ein sich ständig wandelndes und veränderndes
Wertesystem (vgl. Norbert Elias, Der Prozess der Zivilisation). Elias weist auf
die unterschiedliche historische Entwicklung der Begriffe ‚Zivilisation’ und
‚Kultur’ in Frankreich und Deutschland hin. In Deutschland verstand man unter
‚Kultur’ lange Zeit lediglich das ‚Wahre, Schöne, Gute’. ‚Kultur’ bezog sich auf
Produkte des Menschen wie „Kunstwerke, Bücher, religiöse oder philosophische
Systeme, in denen die Eigenart eines Volkes zum Ausdruck kommt. Der Begriff ‚Kultur’
grenzt ab.“ (Elias, S. 91) „Der deutsche Kulturbegriff (...) hebt die
nationalen Unterschiede, die Eigenart der Gruppen, besonders hervor “ (Elias,
S. 92) und erlangte insbesondere in der Ethnologie und Anthropologie an
Bedeutung. Neuerdings hat Terry Eagleton den spannungsreichen Diskurs um
‚Zivilisation’ und ‚Kultur’ wieder aufgenommen (Eagleton, S. 17 f.). An dieser
Stelle kann keine Kulturdebatte geführt werden, ich schlage vor, von einem
erweiterten Kulturbegriff auszugehen, einem Kulturbegriff, der wie Renate
Militzer anregt, „auf dem Grundsatz der Veränderlichkeit basiert“ (Militzer, S.
53). In Anlehnung an den bürgerlich „affirmativen Charakter der Kultur“
(Herbert Markuse) führten Hermann Glaser und Karl Heinz Stahl 1974 den Begriff
der ‚Soziokultur’ in die westdeutsche kulturpolitische Diskussion ein. Es ging
darum, „das abgehobene Kunst- und Kulturverständnis der bisherigen
Kulturpolitik zu überwinden“ (Wagner 2001). Die Trennung zwischen den Kulturen
sowie zwischen Kultur und Gesellschaft sollte aufgehoben werden. Hilmar Hoffmann
prägte anschließend den programmatischen Begriff „Kultur für alle“. Aber wie ist ‚Kultur’ konkret zu erfassen?
Gibt es ‚Kultur’ im Singular überhaupt oder sollten wir von ‚Kultur’ nur im
Plural – also von ‚Kulturen’ – sprechen, wie Thomas Meyer (S. 63) in Anlehnung
an Johann Gottfried Herder vorschlägt. Kann man ‚Kultur’ oder ‚Kulturen’
eingrenzen? „Die Grenze einer Kultur zu (vorausgegangen oder gleichzeitigen)
anderen Kulturen ist nicht eindeutig bestimmbar. Sie wird von der betreffenden
Bevölkerung selbst anders gesehen als von kulturfremden oder kulturwissenschaftlich
‚objektiven’ Betrachtern. Wesentliche Ansatzpunkte zur Abgrenzung sind die
Einheit der Sprache, der moralischen Anschauungen, der Lebensgewohnheiten und
sozialen Gebildeformen. Mit der Entwicklung von ‚Hochkulturen’ und ihren
komplexen, in zahlreiche gesonderte Teilbereiche gegliederten
Großgesellschaften ist die Bestimmung kultureller Grenzen und Binnensysteme
noch schwieriger geworden.“ (Hillmann, S. 460) In der Verwendung des
Kulturbegriffs in der Adjektivform ‚inter-’‚ oder ‚multikulturell’ geben
wir explizit politische Bewertungen hinzu. Wir tun uns wahrscheinlich leichter,
wenn wir in unserem Diskussionszusammenhang von „kulturellen Orientierungen“
sprechen. Georg Auernheimer definiert ‚Kultur’ als „ein Orientierungssystem,
das unser Wahrnehmen, Bewerten und Handeln steuert, das Repertoire an Kommunikations-
und Repräsentationsmitteln, mit denen wir uns verständigen, uns darstellen,
Vorstellungen bilden ...” (Auernheimer, 1999, S. 28). Dieses ‚Orientierungssystem’
darf aber nicht als ein geschlossenes und abgegrenztes System verstanden
werden. Für Anita Kalpaka sind Kulturen unabdingbar mit den „aktuellen Lebensbedingungen“
verbunden, daher sind sie „unabgeschlossen, prozesshaft und veränderbar“
(Kalpaka, S. 77). Für Meyer sind ‚Kulturen’ (im Plural!) „in erster Linie
soziale Diskursformationen, in denen in einem offenen Kräftefeld widerruflich
entschieden wird, was die überlieferten Weltbilder, Werte und Lebensformen für
die Gegenwart bedeuten“ (Meyer, S. 64). Daher sympathisiert er mit dem von
Eagelton vorgeschlagenen Begriff der „Kultur-als-Lebensform“ (a.a.O., S. 63,
vgl. Eagelton, S. 21 f). Auch Werner Schiffauer betont den „prozessualen
Charakter von Kultur“ (Schiffauer, S. 9). Ähnlich sieht es auch Maria Kontos:
„Nicht mehr statische, fassbare, vermittelbare und zuverlässig einsetzbare
Kulturmuster stehen im Mittelpunkt. Kultur wird als dynamischer Prozess
verstanden, der in der Interaktion entsteht.“ (Kontos, S. 33) Schiffauer
plädiert dafür, ‚Kultur’ als ein „Diskursfeld“ zu behandeln, „als eine Arena,
in der Werte, Normen, Denkmuster von kulturellen Akteuren ständig neu
‚verhandelt’ werden – ‚verhandeln’ in Anführungszeichen, weil kulturelles
Handeln zwar immer zeichenhaft, aber nicht immer sprachlich ist: kulturelle
Rebellionen finden oft im Bereich der Moden, der Musik oder der bildenden
Künste statt. Mit dieser Konzeption wird nun jede Bestimmung von Kultur als
Substanz, als Wesen oder als Struktur eine Absage erteilt – statt dessen wird
sie primär als Prozess konzipiert.“. (A.a.O., S. 148) Dieses kritische
Kulturverständnis richtet sich „gegen alle Ansätze, die Kultur als ‚Struktur’
oder ‚System’ konzipieren, also als einen mehr oder weniger geschlossenen Verweisungszusammenhang
von Symbolen. Gegen diese Begriffsstrategie wird eingewandt, dass sie auf die
Stilisierung und Festschreibung des Andersseins hinauslaufe – mit der
problematischen Konsequenz der Ausgrenzung.“ (A.a.O., S. 9) Um die Komplexität
und Widersprüchlichkeit von ‚Kultur’ zu zeigen, beschreibt Eagelton ‚Kultur’
ausdrucksvoll als „ein System von Kräften, die von der Geschichte hervorgebrachte
werden und wie Hefe in ihr wirksam sind“ (Eagelton, S. 36).
Mehrere
kulturelle Orientierungen
Ein Mensch, ein Individuum hat oft mehrere kulturelle Orientierungen,
die Reduzierung auf nur eine einzige Orientierung oder Zughörigkeit, z.B. auf
die ‚reine’ Lehre der Religion oder auf den Nationalismus, kann recht
gefährlich sein . Der im Libanon geborene und in Frankreich aufgewachsene
Schriftsteller Amin Maalouf meint, Identität ließe sich nicht aufteilen, jeder
Mensch habe nur eine ‚Identität’. Er selbst habe eine komplexe Identität, er
schreibt: „Seit ich 1976 den Libanon verlassen habe, um mich in Frankreich
niederzulassen, bin ich unzählige Male und immer in der allerbesten Absicht gefragt
worden, ob ich mich ‚eher als Franzose’ oder ‚eher als Libanese’ fühle. Ich
antwortete jedes Mal: ‚Sowohl als auch!’ Nicht aus Sorge um Ausgleich oder
Ausgewogenheit, sondern weil ich lügen würde, wenn ich anders antwortete. Was
mich zu dem macht, der ich bin, liegt in der Tatsache begründet, dass ich mich
auf der Grenze von zwei Ländern, zwei oder drei Sprachen und mehreren
kulturellen Traditionen bewege. Gerade das ist es, was meine Identität
bestimmt. (...) Halb Franzose also und halb Libanese. Keineswegs. Identität
lässt sich nicht aufteilen, weder halbieren noch dritteln oder in Abschnitte
zergliedern. Ich besitze nicht mehrere Identitäten, ich besitze nur eine
einzige, bestehend aus den Elementen, die sie geformt haben, in einer
besonderen ‚Dosierung’, die von Mensch zu Mensch verschieden ist.“ (Maalouf, S. 7
f.) Problematisch werde es,
wenn man Menschen zwinge „zu ihrer Identität zu stehen“, man ihnen
gewissermaßen nahe lege „sich auf jene fundamentale, häufig religiöse,
nationale oder ethnische Zugehörigkeit in ihrem tiefsten Innern zu besinnen“
(a.a.O., S. 8). Meyer bezeichnet diese Form der übertriebenen Identitätssuche
als Identitätswahn (Meyer, S. 43). Karl-Heinz Flechsig argumentiert ähnlich wie
Maalouf, wenn auch in einer anderen Begrifflichkeit: In modernen Gesellschaften
kann ein Individuum „gleichzeitig mehreren Kulturgemeinschaften angehören“ bzw.
eine „Vielzahl kultureller Bezugssysteme“ haben (Flechsig 1/2000). Jemand kann
sich z.B. gleichzeitig als Kosmopolit und Europäer, als Bayer und Protestant,
als Akademiker und Pazifist, als Hausbesitzer und Ökologe etc. fühlen, vielleicht
morgen schon wird er eines seiner Bezugssysteme verändern.
Eine
ähnliche Möglichkeit der Differenzierung ist das ‚Konzept der Subkulturen’, das
– nach Gerhard Maletzke – von der Kulturanthropologie angeboten wird. Um die
Schwierigkeit zu umgehen, festzulegen wie die Grundbegriffe ‚Kultur’,
‚Gesellschaft’, ‚Nation’, ‚Volk’ zu definieren sind, geht dieses Konzept „von
der Vorstellung aus, dass die Teilgruppen einer großen Gesellschaft eine je
eigene Kultur aufweisen, eben eine Subkultur. Jede Subkultur hebt sich durch
eigene, `subkulturspezifische´ Merkmale von anderen Subkulturen ab, fügt sich
aber zugleich der übergreifenden Gesamtkultur ein. Dabei beschränkt sich dieses
Konzept heute nicht auf ethnisch definierte Teilgruppen, sondern es erstreckt
sich auch auf zahlreiche sonstige Untergruppen einer Großstadtgesellschaft.“
(Maletzke, S. 17) Demnach kann es eine vielfältige Schichtung der Subkulturen
je nach Alter, Bildungsstand, Musikgeschmack, geographische Herkunft etc. geben.
Die
Bevölkerungen der Einwanderungsländer sind seit langem nicht mehr
‚national-homogen’ oder gar ‚monokulturell’ zusammengesetzt, sondern spiegeln
eine Vielzahl kultureller, subkultureller, ‚ethnischer’, sozialer oder sonstige
Gruppenzugehörigkeiten bzw. Orientierungen. Kein Land Westeuropas hat eine
‚homogen nationale Kultur’. Daher ist auch die Theorie der ‚deutschen
Leitkultur’ obsolet, erstens weil es eine homogene ‚deutsche Kultur’ gar nicht
gibt, zweitens weil der Begriff ‚Leitkultur’ eine Höherwertigkeit in Abgrenzung
zu anderen (statischen und abgrenzbaren) ‚Kulturen’ unterstellt. Stuart Hall,
der durch seine „Cultural Studies“ bekannt wurde, meint: „West-Europa hat keine
Nation, die nur aus einem Volk, einer Kultur oder Ethnizität besteht.“ (S.
Hall, S. 422). Im Zuge der Französischen Revolution hat sich die moderne Form
des Nationalstaats herausgebildet, dies ging einher mit Homogenisierung nach
innen und Exilierung des Fremden nach außen, wie Joachim Matthes feststellt.
„Das europäische Prinzip der kulturellen und territorialen Sortierung von
Fremden und Eigenem hat sich bis in die ‚tiefsten’ Schichten des Alltagslebens
und des Alltagswissens hinein in die Vorstellungs- und Handlungswelt der
Europäer eingelassen. Im Zuge dieser Entwicklung hat die neuzeitliche
europäische Welt etwas verloren, worüber sie zuvor durchaus verfügte: ein
Verständigungs- und Regelwerk für die Koexistenz mit Fremden ‚im eigenen Haus’,
in räumlicher Mischung. Dieser Verlustposten neuzeitlicher europäischer
Entwicklung begegnet heute, im Zeitalter der ‚Globalisierung’, als jene
Mangelerfahrung, die dem neueren Diskurs um interkultureller Kompetenz zugrunde
liegt. Dass es sich bei ihm, bei all seiner Fokussierung auf Interkulturalität,
um einen intra-kulturellen Diskurs handelt, wird jedoch selten gesehen,
geschweige denn reflektiert.“ (Matthes, S. 14) Die meisten Gesellschaften
außerhalb Europas hingegen seien „genuin multikulturell angelegt“(Matthes, S.
15), die ‚interkulturelle Kompetenz’ gehöre dort zum Alltag. „’Kultur‘ ist
nicht mehr gleichzusetzen mit ‚Nationalkultur‘, da alle modernen Gesellschaften
grundsätzlich multikulturell im weiteren Sinne geworden sind (möglicherweise es
auch immer schon waren)“, meint auch Flechsig (Flechsig 1999, S. 210). Die
Vielfältigkeit gibt es auch bei der internationale Zusammenarbeit, die „in
ihrer konkreten Gestaltung in erster Linie die Zusammenarbeit von Menschen mit
unterschiedlichen kulturellen Orientierungen“ ist. „Dabei aber können sie schon
deshalb nicht Vertreter von ‚Nationalkulturen’ sein, weil dieser Begriff
explizit oder implizit die Einheit von Territorium, Staatszugehörigkeit,
Ethnizität, Sprache und womöglich gar noch von Religion, Weltanschauung und
Verhaltenstypik voraussetzt, die empirisch für real existierende Staaten nicht
nachgewiesen werden kann und wohl auch historisch eher ideologischen Charakter
hatte, nicht aber ein reales Phänomen bezeichnete.“ (Flechsig, 2/2000) Länder,
die sich politisch und kulturell abschotten, haben den Kampf um die Zukunft
schon verloren, wie viele Beispiele in der Geschichte zeigen (das
Pol-Pot-Regime in Kambodscha, das Taliban-Regime in Afghanistan etc.). Am
Beispiel der bildenden Kunst sind die gegenseitigen Beeinflussungen deutlich
sichtbar. „Es gibt langfristig keine kulturell abgeschotteten Territorien
mehr.“ (Blase) Im Zeitalter der Globalisierung gibt es kaum noch ‚geschlossene
Kulturräume’, höchstens 2 % der Menschheit leben noch in abgeschlossenen
Gebieten (so Flechsig bei einem Symposium der Petra-Kelly-Stifung 2001 in
Nürnberg). „In den meisten Ländern dieser Welt haben sich auf dem gleichen
Gebiet und im gleichen Staat mehrere Kulturgemeinschaften entwickelt, die
gleichzeitig und nebeneinander existieren.“ (Flechsig, 1/2000) Auch Wolfgang
Welsch geht in seiner Theorie der ‚Transkulturalität’ davon aus, dass moderne
Kulturen durch eine Vielzahl unterschiedlicher Lebensstile geprägt sind, sie
sind miteinander verflochten und durchdringen einander. Daher könne man nicht
mehr in den Kategorien von ‚Nationalkulturen’ denken. „Die Lebensformen enden
nicht mehr an den Grenzen der Nationalkulturen, sondern überschreiten diese und
finden sich ebenso in anderen Kulturen. (...) Anstelle der separierten
Einzelkulturen von einst ist eine interdependente Globalkultur entstanden, die
sämtliche Nationalkulturen verbindet und bis in Einzelheiten hinein
durchdringt.“ (Welsch)
Im Zeitalter
der Globalisierung werden die kulturellen Werte der Individuen und
verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen fast täglich unterschiedlichsten
Einflüssen ausgesetzt und verändern sich ständig. Das Entscheidende ist, dass
alle Individuen in Dependenzen zu anderen Individuen, zu sozialen Gruppen, zur
Gesellschaft stehen. „Die Frage nach der `Identität´ wurde und wird in der
Gesellschaftstheorie heftig diskutiert. Alte Identitäten, die die soziale Welt
lange stabilisiert haben, sind im Niedergang begriffen, machen neuen
Identitäten Platz, das moderne Individuum als einheitliches Subjet wird
fragmentiert (...)“ (S. Hall, S. 393) Die Identität des ‚postmodernes Subjekts’
driftet auseinander, wird dezentriert und zersplittert. „Es geht vielmehr
darum, dass man jede zersprengte, vielschichtige Identität nicht als Mangel an
Identität betrachtet, sondern als Erweiterung und als eine neue Chance die
Barrieren der Abgrenzung zu überwinden.“ (Glissant, Interview 1999) Wenn das
Individuum einen „offenen Charakter“ hat, bildet es „eine soziale und persönliche
Identität aus, die Spannungen aushält, für wechselnde Situationen offen bleibt
und darum Verschiedenartigkeit, Infragestellung, Widerspruch in der sozialen
Umwelt nicht als Bedrohung und Quelle lähmender Angst, als Verweigerung seiner
Anerkennung empfinden muss“ (Meyer, S. 42). Für eine stabile Identität ist vor
allem entscheidend, ob Fähigkeit zu Empathie mit anderen Identitäten und
Distanz zu den jeweils übernommen eigenen Rollen sowie Toleranz gegenüber den
Uneindeutigkeiten vorhanden sind (Meyer, S. 43). In der jüngeren
sozialwissenschaftlichen Forschung wird angenommen, so Michael Krummacher und
Victoria Waltz, „dass gesellschaftliche Integration nicht ohne subjektive
Identität auskommt. Gemeint ist ein dauerhafter Prozess zur Herausbildung einer
positiven Identität des einzelnen mit sich selbst, mit seiner Gruppe und mit
seiner Umgebung. Dies gilt für die ansässige deutsche Wohnbevölkerung natürlich
genauso wie für die Zuwanderer und ihre Familien. Identität wird als eine
‚dynamische Kategorie’ begriffen, die zwar veränderlich, aber auch an die jeweilige
Lebensgeschichte gebunden ist und deshalb nicht beliebig variiert. (...)
Soziokulturelle Identität schließt sich eng an die jeweils mitgebrachte Lebensgeschichte
an. Das heißt für Migranten muss es möglich sein, in einer neuen Umgebung an
diese anschließen und sich lernend in Bezug auf die eigenen Lebensgeschichte
weiterentwickeln zu können. Integration und ethnische Identität schließen sich
deshalb nicht aus, sondern bedingen einander.“ (Krummacher/ Walz, S. 58) Die
kulturelle Differenz, sowohl die Differenz auf Grund ethnokultureller als auch
kulturell-religiöser Identitäten, ist letztendlich immer eine soziale
Konstruktion (vgl. Meyer S. 16). Wer sich diesen Prozess der kollektiven
Identitätssuche und -zuschreibung in der Einwanderergesellschaft anschaut, wird
feststellen, dass es zwei Arten von Ethnisierung (und Kulturalisierung) gibt,
die Selbstethnisierung und die Fremdethnisierung (interne und externe
Definition). Es kommt auf den Blickwinkel an. Für mich macht es einen großen
Unterschied aus, ob sich jemand selbst als Angehöriger einer ‚ethnischen’
Minderheit bezeichnet oder ob jemand über diese Minderheit spricht und dabei
die Pluralform wählt. Jede/r möge sich selbst mal prüfen, wie oft wir andere
Menschen im Alltag schon auf den ersten Blick in eine ‚ethnische’ oder
kulturelle Schublade stecken. Warum wollen wir immer gleich
klassifizieren? „Die
Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein“ betitelten Anita Kalpaka und Nora
Räthzel Anfang der 90er Jahre vieldeutig ihr Buch. Ich könnte unzählige Beispiele aus
alltäglichen Gesprächssituationen darlegen, die jeweils mit verallgemeinernden
Sätzen wie „Die Türken ...“, „Die Polen ...“, „Die Asylanten ...“ etc. beginnen
und im Verlauf des Gesprächs lediglich subjektive Beobachtungen und Erfahrungen
mit einzelnen Menschen widergegeben. Daher rate ich immer, auch in kleinen
Nebensächlichkeiten, genau zu sein und zu differenzieren. Man sollte sich immer
die Individuen genauer anschauen sowie den Lebenszusammenhang, in dem sie
stehen, und jegliche Verallgemeinerungen, Klischees und Stereotypen (zu denen
Typologisierungen leicht führen können) vermeiden. Auch viele Medien schrecken
vor Ethnisierung nicht zurück, wenn es z.B. darum geht, die Nationalität eines
Verdächtigen oder Kriminellen zu veröffentlichen, was sie bei einem Deutschen
hingegen nicht oder nur selten tun. Es fängt schon bei ‚harmloseren’
Geschichten an. Die misslungene internationale Kommunikation in einem globalen
Unternehmen wird in der Wochenzeitung DIE ZEIT dann entsprechend interpretiert:
„Die Japaner lieben´s vage“ und die Südamerikaner haben eben „Palaver-Kulturen“
(Michel). Der Weg von einem Stereotyp zu einem Vorurteil ist kurz, aus lockeren
Vorstellungen werden leicht unüberwindbare Einstellungen. „Einstellungen (wie
auch Vorstellungen) gegenüber anderen Nationen, Kulturen sind in aller Regel
stabil.“ (Maletzke, S. 118) Vorstellungen und Vorurteile über ganze Völker sind
oft jahrhundertealt (z.B. ‚Franzosen sind Feinschmecker’, ‚Deutsche sind
ordnungsliebend’ etc.) Ein weiteres Beispiel des Schubladendenkens sei aus dem
voller Vorurteile bestehenden sog. „Handbuch Interkulturelle Kompetenz“ von
Thomas Baumer zitiert: „Für einen Deutschen, Finnen und Australier ist die
Wahrheit die ‚effektive Wahrheit’ und klar definiert; in Japan und
Großbritannien ist die Wahrheit eine feine Sache, solange sie keinen unnötigen
Aufruhr verursacht, und in China gibt es keine absolute Wahrheit; in Italien
ist sie Verhandlungssache ...“ (Baumer, S. 18) Wer Menschen und Länder in
dieser unsachlichen und unwissenschaftlichen Art typologisiert muss sich der
Frage stellen, was diese Sichtweise noch mit ‚interkultureller Kompetenz’ zu
tun hat. “Nicht überall, wo interkulturell ‚drauf steht’, ist auch Interkulturalität
im emanzipatorischen Sinne des Wortes ‚drin’.“ (Breitkopf/ Schweitzer, S. 58)
„Wie die leidvolle Geschichte nationaler Stereotypenbildung beweist, ist dabei
die Zuschreibung von Eigenschaften, die Mitglieder eines bestimmten Kollektivs
- eines fremden oder des eigenen - angeblich besitzen, eine beliebte Vorgehensweise,
die oft über Generationen weitergereicht wird. Der dabei ins Spiel kommende
fundamentale Denkfehler besteht darin, dass solche Aussagen ebensoviel oder
mehr über denjenigen aussagen, der diese Aussage macht, als über den, auf den
sie sich bezieht. Ebenso wie ‚Bruder sein’ keine Eigenschaft eines Menschen
ist, sondern ein Beziehungsverhältnis zwischen mindestens zwei Menschen bezeichnet,
so sind auch Aussagen über ‚Franzosen’, ‚Moslems’ oder welches Kollektiv auch
immer solche Beziehungsaussagen, die immer auch zugleich Selbstaussagen sind.
Einer empirischen Überprüfung von Merkmalen eines bestimmten Kollektivs
entziehen sie sich daher prinzipiell.“ (Flechsig 1/2000) Besser wäre es, sich
die Mühe zu machen, die Menschen und vor allem die agierenden Individuen in
ihrem gesellschaftlichen Umfeld (und eventuell auch den historischen
Zusammenhängen) genauer und unvoreingenommen anzusehen. Unter ‚interkultureller
Kompetenz’ verstehe ich daher vor allem Empathie, die Fähigkeit sich in den
anderen, den vermeintlich “Fremden” einfühlen zu können. Bei der Entwicklung
‚interkultureller Kompetenz’ geht es um „vorurteilsfreie Beobachtung, Umgang
mit Mehrdeutigkeit, Empathie und Transzendenz“ (Gaston, zitiert bei Flechsig1999,
S. 212).
Der auf
Martinique geborene Schriftsteller und Philosoph Édouard Glissant sieht die
Zukunft der Welt in der ‚Kreolisierung’ und der kulturellen Durchmischung. „Für
ihn ist das - oft gewaltbelastete - Aufeinandertreffen von Völkern und
Kulturen, Voraussetzung für ein neues ‚Sein’ in der Welt, für eine Identität,
die in einem Land verankert und gleichzeitig reich an Einflüssen aus anderen
Ländern ist. Quintessenz seines Modernitätsgedankens: das Konzept der
‚Beziehung’ ist das genaue Gegenteil von kultureller und politischer Dominanz
des anderen oder eines Multikulturismus, der sich auf die Diversität
reduziert.“ (Label France, Gespräch mit Édouard Glissant) „Wir müssen uns an
den Gedanken gewöhnen, dass wir in der Welt leben können, ohne den Ehrgeiz zu
haben, sie vorherzusehen oder zu schulmeistern. Wir müssen uns auch an den
Gedanken gewöhnen, dass sich unsere Identität grundlegend verändern wird im
Kontakt mit dem anderen, so wie seine Identität sich verändern wird im Kontakt
mit uns, ohne dass sich der eine und der andere denaturiert und sich in einem
multikulturellen Magma auflöst.“ (A.a.O.) „Kreolisierung nenne ich die Begegnung,
die Wechselwirkung, das Aufeinanderprallen, die Harmonien und Disharmonien
zwischen Kulturen in der hergestellten Totalität unserer Welt. Die Kreolisierung
ist nicht einfache Rassenmischung, sie geht weiter. Sie schafft absolut Neues,
das unerhört und unerwartet ist.“ (Glissant im Interview 1999) Auch der in den
USA lebende mexikanische Schriftsteller Carlos Fuentes ist ein Anhänger der
‚Kreolisierung’ oder der ‚Mestizaje’ (‚Mestizisierung’), wie es im
spanischsprachigen Lateinamerika in Anlehnung an die ‚Vermischung’ der Menschen
indianischer und europäischer (und letztlich auch afrikanischer) Herkunft
heißt. ‚Mestizaje’ (franz. métissage) darf heute jedoch nicht biologisch (wie
z.B. im deutschen Begriff ‚Mischling’) verstanden werden, denn die sich ständig
wandelnden kulturellen Orientierungen werden in diesem Denkansatz unter dem
Aspekt der Vermittlung und des Austausches als ‚Lifestyle’ gesehen. ‚Mestizaje’
bedeutet Begegnung der Kulturen, es ist ein Verschmelzungsprozess und das
Gegenteil von Partikularismus und Archipelisierung: „Eine Kultur, die sich selbst
isoliert, ist eine sterbende Kultur.“ (Fuentes, S. 43) Das 21. Jahrhundert
werde „ein mestizisches Jahrhundert sein oder überhaupt keinen Bestand haben“
(a.a.O., S. 36)
„Neue
Impulse zur Theoriebildung über das kulturelle Andere und interkulturelle Beziehungen
(kommen) aus Lateinamerika, denn Fragen der Zirkulation und des Kulturtransfers
in der Vermittlung zwischen kultureller Praxis, popular culture, gesellschaftlicher
Medialisierung und Politik (sind) in den Industrieländern traditionell nicht Bestandteil
der kulturellen Agenda. In Lateinamerika, wo diese Fragen zum täglichen Leben
gehören, haben sie statt dessen kritische Aufmerksamkeit gefunden. Resultat der
Debatten über die Transformationen von Erzeugnissen und Praktiken der populären
Kultur im urbanen Raum und der industriell produzierten Kultur ist die Studie
Hybride Kulturen (1989) von Néstor García Canclini, dem in Mexiko lebenden argentinischen
Anthropologen. Prozesse der kulturellen Vermischung nicht länger als mestizaje
zu beschreiben, sondern als Hybridisierung, beinhaltet, frühere Gegensatzpaare
von traditionell-modern oder original-reproduziert aufzulösen. Als besonders
geeignet erwies sich der Begriff hybrid, um neue kulturelle Prozesse zu
erfassen wie sie in sogenannten Grenzkulturen, etwa zwischen den USA und Mexiko
stattfinden: Damit ließ sich beschreiben, wie das Zusammenspiel ethnischer,
geopolitischer, ökonomischer Faktoren auf dem Gebiet der Kultur in seiner
Dynamik funktioniert und sich neue Misch-Identitäten herausbilden, bei denen
Kultur weder sozial noch territorial fest gebunden ist.“ (Spielmann)
Bernd Wagner sieht im Rahmen der
Globalisierungstendenzen drei kulturpolitische Schlagworte: „Während die
Vorstellungen der ‚McDonaldisierung’ und der ‚Glokalisierung’ (Betonung des Lokalen
im Globalisierungsprozess) Kulturen in ‚Reinform’, eine relativ stabile
Identität zugrunde legen, geht ein drittes Gedankengebäude von einer ‚Hybridisierung’
oder ‚Kreolisierung’ der Kulturen aus. Im Zentrum dieser Idee steht die
Überlegung, dass Kulturen sich gegenseitig aufnehmen und durchmischen. Dabei
verbinden sich verschiedene kulturelle Stile und Traditionen. Die Menschen nehmen
kulturelle Inhalte und Formen auf, eignen sie sich an und entwickeln sie produktiv
weiter. Kulturen sind hier offene Prozesse, in die vielfältige Einflüsse eingehen
und diese ständig verändern. Auch wenn es heute viele aktuelle Beispiele
solcher neuen hybriden Kulturmuster gibt, etwa die verschiedenen kulturellen
Ausdrucksformen der zweiten Migrantengenerationen, so ist das ein eher alltäglicher
Vorgang. Denn alle entwickelten Kulturen sind hybride Kulturen, entstehen und
entwickeln sich immer im Kontakt und im Austausch mit anderen Kulturen. Keine
Nation hat ihre Kultur ohne Einfluss von außen entwickelt.“ (Wagner) Nach Edward
Said „sind alle Kulturen miteinander verwoben, keine ist vereinzelt und rein,
alle sind hybrid, heterogen, hochdifferenziert und nicht monolithisch“. (Said,
S. 30, zitiert bei Eagleton, S. 26)
Auch ein
Symposium der Documenta 11 beschäftigte sich im Januar 2002 in St. Lucia mit
‚Créolité and Creolization’ (Documenta 11, Plattform 3). „Der in Jamaika geborene und heute in London
lehrende Begründer der angelsächsischen Kulturwissenschaft, Stuart Hall, hielt
das Eröffnungsreferat. Er untersuchte, ob das Konzept der Kreolität nur für die
französische Karibik gilt oder ob es dazu dienen kann, vielfältige und globale
Prozesse kultureller Vermischung zu beschreiben. Auch wenn Kreolisierung ein
Prozess ist, der die ganze Welt ergreift, so heißt das eben nicht, dass ein
entsprechendes Bewusstsein folgt. Kreolität im Sinne einer egalitären
Perspektive, einer Programmatik der Vielstimmigkeit ist zwar emanzipatives Ziel
- aber es muss immer wieder erkämpft werden.“ (Schmitz) Nach Stuart Hall sind
alle modernen Nationen
„kulturell hybrid“ (S. Hall, S. 422).
Die
türkischsprachige Wochenzeitung Dünya schreibt in ihrer deutschsprachigen
Beilage vom 09.08.02 unter dem Titel „Kein echter Anatolier mehr“ über den
jungen Autor Feridun Zaimoğlu: ’’‚Es wird immer so getan, als ändere sich
alles, nur der Türke in Deutschland bleibt ein echter alter Anatolier’, sagte
der 1964 im türkischen Bolu geborene Autor in einem dpa-Gespräch. (...) ‚Es
gibt nicht die Kopftuch-Aische und dann das Disco-Flittchen’, sagt er. (...)
Unterschiedliche Verhaltensweisen und Codes, die lange meist zu
deutsch-deutschen oder türkisch-türkischen Pärchen in der Jugendzeit führten,
verlören allmählich an Brisanz, und so mischten sich die Jungen stärker als
früher.“ Wir haben es mit einem Prozess der kulturellen Neuorientierung von
Individuen im Migrationsprozess zu tun, in dem Werte, Normen und Deutungsmuster
ständig neu ausgehandelt werden. „Die Selbstorientierungsversuche von Migranten
der zweiten und dritten Generation haben gezeigt, dass sie sich weniger auf
ihre nationale Herkunftskultur als vielmehr auf eine eigenständige Einwandererkultur
beziehen, dass sie also im Laufe der Zeit ihre kulturellen Orientierungen transformieren,
ohne sich einfach an die Kultur des Landes, in dem sie leben, anzupassen.“
(Gemende u.a., S. 13)
In der Literatur findet man immer wieder zwei
Theorieansätze (z.B. zu ‚Konflikt und interkultureller Mediation’), die sich –
idealtypisch gesehen – entgegenstehen:
a) “Aus einem universalistischen Verständnis heraus wird der Faktor ‚Kultur’
(...) als eine bei der Konfliktbearbeitung nachrangige Größe betrachtet.
Wichtiger seien demgegenüber die realen Machtverhältnisse und die Konfliktsubstanz,
die letztlich vor allem im Wettbewerb um knappe Ressourcen bestehe. (...)
Kulturelle Differenzen erscheinen dabei als Randbedingungen.“ Kulturelle
Differenzen könnten „bewusst instrumentalisiert werden als machtpolitische
Strategien. Prinzipiell würde sich die Bearbeitung von Konflikten innerhalb
einer Kultur aber nicht von derjenigen zwischen verschiedenen Kulturen
unterscheiden müssen.“ (Calließ S. 5) Besonders der französische Philosoph
Alain Finkielkraut hat sich für einen radikalen, universalistischen Humanismus
ausgesprochen.
b) „Kulturalistische Ansätze betrachten demgegenüber die kulturelle Zugehörigkeiten
und Differenzen als Schlüsselfaktoren für die Bearbeitung von
Gruppenkonflikten. Sie weisen darauf hin, dass unterschiedliche Kulturstandards
fundamentale Verstehens- und Verständigungsbarrieren repräsentieren können.
Hinzu komme, dass auch die Art und Weise des Umgangs mit Konflikten selbst
kulturell geprägt sei. In vielen Fällen seien zudem die ‚Anerkennung’ und
Bedrohung kultureller Identitäten ein, wenn nicht der zentrale
Konfliktgegenstand. Für interkulturelle Konflikte seien deshalb besondere
Verfahren und Instrumente notwendig.“ (Calließ S. 6 f.) Auch der Kulturrelativismus
betont die Besonderheiten der jeweiligen Kulturen, indem das Recht auf
Differenz und Anerkennung als kollektives Gut eingefordert wird (Charles
Taylor, vgl. Schiffauer S. 145). Dabei können radikale Kulturrelativisten
durchaus in Konflikt mit den Menschenrechten kommen. „Bekanntlich hat die
Erklärung der Menschenrechte von 1948 den Vorschlag zurückgewiesen,
Menschenrechte in ihrem jeweiligen Kontext, d.h. in unterschiedlicher Weise für
die einzelnen Kulturen und Gesellschaften zu definieren.“ (Treide, S. 7) Der
Verfasser dieser Zeilen neigt dazu, von einem universalistischen Verständnis
auszugehen (vgl. Popp 1992, S. 57 f.), die kulturellen Differenzen jedoch
genauer anzuschauen und zu berücksichtigen, aber ohne in die „Ethno-Falle“
(Nothhafft) oder eine kulturalistische Überbewertung der Differenz (siehe
Huntington) zu geraten. Kalpaka nimmt eine kritische Position ein. Da sich
Deutschland noch immer nicht als ‚Einwanderungsland’ verstehe, werde ein
„Wir-Die-Gegensatz“ und somit ‚Fremdheit’ konstruiert. Statt Differenzen, die
sie nicht abstreitet, zu betonen, plädiert sie „die eigene Wahrnehmung der
Fremden zu thematisieren“, die Machtverhältnisse anzuschauen und die
„Anpassungs- und Ausgrenzungsprozesse von Menschen und Gruppen“ zu studieren
(Kalpaka, 1998, S. 78). An Stelle des Begriffs „interkulturelle Kompetenz“ sähe
sie lieber ein „kompetentes Handeln in der Einwanderungsgesellschaft“. Das
‚Handeln’ müsse zielgerichtet sein im Sinne von Partizipation und Emanzipation
der Klienten/innen. In Bezug auf interkulturelle Fortbildungen warnt Sabine
Jungk davor, dem „Kulturalismus Vorschub zu leisten und Vorurteile quasi auf
höherem Niveau zu stabilisieren. Statt dessen sollten interkulturelle
Weiterbildungen zwei Wahrnehmungs- und Interaktions-‚fallen’ aufdecken: Die
Leugnung kultureller Differenz, die auf Grund eines abstrakten
Gleichheitsgrundsatzes Besonderheiten der Situation von Migrantinnen und
Migranten negiert und die stereotypisierende Überbetonung interkultureller Differenz.“
(Jungk S. 108) „Kulturelle Differenzen können ebenso unter- wie überschätzt
werden, wobei ersteres oft nicht einfach einer kognitiven Fehlleistung
entspringt. Vielmehr lässt sich die Differenzblindheit in vielen Fällen als
Verleugnung charakterisieren, die von Angst oder auch schlicht Bequemlichkeit
motiviert sein kann. (...) auch die Faszination durch das Fremde als Effekt
einer positiven Projektion ist nicht unproblematisch wie man weiß.“
(Auernheimer, 2002, S. 7) Es geht immer wieder um die Frage, welche Rolle die
„Art der kulturellen Zugehörigkeit“ im Vergleich verschiedener Zugehörigkeiten
spielt bzw. „inwieweit es in vielen Fällen überhaupt möglich ist, eindeutige
Grenzen angesichts multipler kultureller Zugehörigkeiten vorzunehmen.“ (Ropers,
S. 69) Die heftig diskutierte Frage, ob „...kulturelle Unterschiede tatsächlich
so bedeutsam (sind), dass sie ein gemeinsames agieren undenkbar machen“ (Liebe
u.a. S. 22) wird wohl eher subjektiv zu beurteilen sein. „Letztlich hängt das
Ausmaß an Unterschieden zwischen kulturellen Gruppen auch vom (gewollten)
Blickwinkel des Betrachters ab, der sich sowohl auf Gemeinsamkeiten als auch
auf trennende Elemente fokussieren lässt: So werden vorhandene kulturelle
Unterschiede mal banalisiert und mal überbetont.“ (Schramkowski S. 9)
Kulturalismus ist eine moderne und gemäßigte Form der Differenzzuschreibung und
somit letztendlich in der Tendenz diskriminierend. Er kann den
Rassismusverdacht nicht ausräumen. Um der Gefahr der Kulturalisierung zu entgehen,
schlagen Mathias Lange und Nils Pagels vor, die Auflösung der Zuschreibungen
„ausdrücklich als Ziel politischen Handelns“ zu definieren (Lange/ Pagels, S.
252), daher verstehen sie ‚interkulturelle Kompetenz’ als „die Fähigkeit, in
‚ethnifizierten Situationen des Alltagslebens’ die kulturellen Zuschreibungen
und Festlegungen aktiv und effektiv auszulösen und sie in Situationen des offenen
und gleichberechtigten ‚Konfliktmanagements’ durch die Akteure selbst
umzumünzen“ (a.a.O., S. 241). Es geht darum, kulturelle Festlegungen in
„Situationen der Offenheit und der Nicht-Festlegung“ zu wenden (a.a.O., S.
244).
Bezüglich
der ‚interkulturellen Kommunikation’, die inzwischen an einigen Universitäten
als Studienfach angeboten wird (u.a. in München, Frankfurt/O., Chemnitz, Saarland),
gibt es unterschiedliche Denkansätze. In der interkulturell orientierten Wissenschaft
sehe ich momentan zwei Grundströmungen, die z.T. in konträrer Position
zueinander stehen:
a) die internationale ‚Austauschforschung’, die sich mit ‚interkultureller
Zusammenarbeit’, ‚globalem Management’, ’Kulturgrammatik’ und Typisierungen von
‚Kulturen’ beschäftigt,
b) die ‚Migrationforschung’ (inklusive ‚Interkultureller Pädagogik’,
Rassismusforschung u.ä.), die unterschiedliche Schwerpunkte auf theoretische
Begriffe wie ‚multiethnisch’, multikulturell’, ‚interkulturell’ oder gar
‚transkulturell’ legt.
Die erste
Richtung untersucht insbesondere die kulturellen Merkmale, auf welche
Studenten, Wissenschaftler, Wirtschaftsmanager oder Soldaten bei einem
Auslandsaufenthalt achten sollen und entwickelt Indizes, Tabellen und
‚Kulturstandards’ für einzelne Länder (vgl. Hofstede, Thomas). Diese Form der
‚interkulturellen Kompetenz’ kann durchaus bewusst in einem affirmativen
„Machtdiskurs“ eingebettet sein, wenn es um „den reibungslosen Ablauf der
Profitmaximierung“ in Asien, Afrika oder Südamerika, um internationale
Firmenzusammenschlüsse oder um die „Vorbereitung von Bundeswehreinheiten auf
den Kosovo-Einsatz“ u.ä. geht ( Breitkopf/ Schweitzer, S. 45). Im Mittelpunkt
stehen dabei meist Missverständnisse und Fehldeutungen auf Grund falscher
Deutung von Handlungen und Symbolen im jeweils anderen kulturellen Kontext.
„Eine wuchernde Seminarindustrie, v.a. auf Geschäftspartnerschaften und
Firmenfusionen bezogen, hat sich in den letzten Jahren der Bearbeitung dieser
Art von kulturellen Differenzen gewidmet.“ (Meyer, S. 33) Für die Auseinandersetzung
um das Thema ‚Interkulturelle Kommunikation’ in den multikulturellen Gesellschaften
Westeuropas oder Nordamerikas ist der Ansatz der Typisierung von kulturellen
Werten meines Erachtens zu schemenhaft und starr. Dieser Forschungsgegenstand
bezieht sich in erster Linie auf die Interaktionen der internationalen Elite
und geht kaum auf den vor allem durch Armut erzeugten Migrationsprozess und den
damit verbundenen Wertewandel ein. Die Migrationsforschung, die Interkulturelle
Pädagogik und die verwandten Bereiche hingegen beschäftigen sich mit den Interaktionen
von und mit Menschen, die auf Grund unterschiedlichster Motive – auf freiwilliger
oder erzwungener Basis – auswandern bzw. sich als Einwanderer und
Familienangehörige von Eingewanderten in den Industriezonen Westeuropas und
Nordamerikas angesiedelt haben.
Es gibt aber auch Stimmen, die sich dafür einsetzen,
dass sich die psychologische Vorurteilsforschung, die v.a. in der
internationalen Austauschforschung tätig ist, und die pädagogischen Konzepte
annähern sollten. „Auffällig ist, dass Vertreterinnen und Vertreter der
‚interkulturellen Arbeit’ und solche aus ‚internationalen’ Bezügen sich bei der
Konzeptentwicklung wechselseitig weitgehend ignorieren (...) während die
‚interkulturelle’ Richtung aus den Traditionen der Ausländerpädagogik und
Erwachsenenbildung kommt und sich sozialen Situationen in der multikulturellen
Gesellschaft zuwendet, hat die international-interkulturelle Richtung ihr
Standbein in der häufig betriebsinternen Managerschulung. Dadurch unterscheiden
sich Motive – ökonomisches Interesse einer effektiven internationalen
Geschäftsabwicklung versus soziale und politische Perspektiven einer toleranten
Bürgergesellschaft. Vermutlich befremden Konzepte von ‚Kulturstandards’, die in
der ‚internationalen’ interkulturellen Schule mit Blick auf ‚fremdkulturelle’
Gesellschaften im Ausland gängig sind, die Akteure einer interkulturellen
Binnengesellschaft, die Kulturalismus bekämpfen.“ (Jungk, S. 109 f.)
Man kann und soll sich dem Phänomen der Migration und der
interkulturellen Zusammenhänge auch von der historischen, politologischen und
sozialwissenschaftlichen Seite zuwenden (vgl. Bade und Bade/ Münz). Kenntnisse über die Migrationsgeschichte
und über Geschichte, gegenwärtige politische Situation und die gesellschaftlichen
Zusammenhänge einzelner Länder, zu denen die Migranten/innen in besonderer Beziehung
stehen (leichtfertig spricht man oft von den „Heimatländern“ – dabei handelt es
sich oft nur um die „Urlaubsländer“ der Menschen mit Migrationshindergrund),
sind natürlich von Vorteil (das sog. Hintergrundwissen über einzelne Länder).
Dabei sollten wir allerdings Kenntnisse über ‚Kulturtechniken’ (früher sagte
man ‚Sitten und Gebräuche’) nur als kulturelle Orientierungshilfen verstehen.
Es ist natürlich sinnvoll zu wissen, was man z.B. in der Türkei unter
„şeref“ und „namus“ versteht (vgl. Türkeiprogramm der Körberstiftung, vgl.
Seiler/Mühling-Versen) oder welche Regeln man bei einer Essenseinladung in
Indien einhalten sollte. Selbstverständlich gibt es in anderen Ländern und
Regionen der Welt unterschiedliche Vorstellungen beispielsweise von Zeit,
Distanz und Nähe, Körbergesten etc. Geert Hofstede untersuchte im
internationalen Vergleich systematisch die Bereiche (Dimensionen):
Machtdistanz, Individualismus/Kollektivismus, Maskulinität/Femininität und
Unsicherheitsvermeidung (problematisch sind meines Erachtens allerdings die
mechanischen Messungen und Klassifizierungen). Andere Wissenschaftler, so
Juliana Roth und Klaus Roth, gingen von der „Parallelität zwischen Kultur- und
Sprachsystemen“ aus und suchten nach der ‚Grammatik der Kultur’ und nach
‚Kulturregeln’, um „das Verhalten der Menschen der jeweiligen Kultur
vorhersagen zu können“ (Roth/Roth, S. 9). Dabei wird eher von einem statischen
und abgrenzbaren anstatt von einem dynamisch-veränderbaren und offenen
Kulturverständnis ausgegangen. Die unterschiedlichen Zeitvorstellungen hat
Robert Levine in seinem Buch “Eine Landkarte der Zeit“ anschaulich geschildert
und analysiert. Es handelt sich dabei aber auch wieder nur um einen Teilaspekt
von kulturellen Orientierungen in einem Land, den man nicht verallgemeinern
sollte. Andere Wissenschaftler untersuchen systematisch „Strukturmerkmale von
Kulturen“ wie ‚Wahrnehmen’, ‚Zeiterleben’, ‚Raumerleben’, ‚Nichtverbale
Kommunikation’ etc. (z.B. Maletzke). Auch Alexander Thomas hat für
interkulturelle Trainings kulturspezifische Regeln entwickelt. Die ‚Kulturstandards’
liefern „den Mitgliedern der jeweiligen Kultur eine Orientierung für ihr
eigenes Verhalten“ und ermöglichen ihnen „zu entscheiden, welches Verhalten als
normal, typisch und noch akzeptabel bzw. welches Verhalten abzulehnen ist. Abweichungen
von diesen Standards werden außerhalb gewisser Toleranzgrenzen als abnorm,
außergewöhnlich, fremd usw. registriert und abgewehrt“ (Thomas 1988, S. 153.
Dieser Ansatz versucht zwar zu Toleranz und Empathie anzuleiten, „kritisch anzumerken
ist jedoch, dass er das kulturanthropologische Konzept der ‚Kulturgrammatik’
sehr rigide anwendet und von unhinterfragten und kaum differenzierten ‚Nationalkulturen’
ausgeht, wodurch die Gefahr der ahistorischen Essentialisierung und
Stereotypisierung der Kulturen entsteht.“ (Roth/Roth, S. 14) Wenn man
Kulturstandards als „Regeln sozialer
Interaktion“ (Thomas 1999, S. 123) versteht, sind Missverständnisse nicht
ausgeschlossen. Thomas sieht inzwischen wohl selbst die Mängel und ist durchaus
offen für eine Erweiterung des Kulturstandardkonzepts. Sofern die Kritik am
Kulturstandardkonzept nicht ablehnend, sondern nur ergänzend ist, zitiert er
sie selbst: „Es besteht nach Krewer die Gefahr, dass eine Interpretation von
Kulturstandards als allgemeingültige Merkmale einer kulturellen Gruppe zu
stereotypen Kulturalisierungen beobachteter Prozessmerkmale führt, ohne die
situationsspezifischen und interpersonalen Einflussfaktoren zu würdigen. Um
dieser Gefahr zu entgehen, plädiert er für eine Dynamisierung des Konzepts des
Kulturstandards, indem weniger auf das Resultat geachtet wird, sondern mehr auf den Prozess der wechselseitigen
Orientierung und Verständigung in interkulturellen Kommunikations- und
Kooperationssituationen.“ (Thomas 1999, S. 128) Auernheimer geht
differenzierter vor, er sieht vier Dimensionen interkultureller Kommunikation:
Machtdimension, Kollektiverfahrungen, gegenseitige Fremdbilder, die kulturelle
Dimension. „Ausdrücklich erst an vierter Stelle, weil oft überbewertet,“ nennt
er „die kulturelle Dimension im engeren Sinn (...) – ‚kulturell im engeren
Sinn’ deshalb, weil auch Kollektiverfahrungen und Fremdbilder Bestandteil von
Kulturen sind. Selbst die Vorstellungen von Macht bzw. die jeweiligen
Machtmittel (Beisp.: Klientelismus) dürften kulturspezifisch sein.“ (Auernheimer,
2002, S. 6) Viele nonverbale Ausdrucksformen sind kulturspezifisch: „Mimik,
Gestik, die Körperhaltung, speziell die Art der körperlichen Zuwendung beim
Sprechen, das räumliche Distanzverhalten. Kulturspezifisch sind Kommunikationsrituale
und Formen der Gesprächsorganisation, zum Beispiel die Regeln des Sprecherwechsels,
darüber hinaus auch einige Gesprächstypen. Viele Kommunikationsregeln
erschließen sich dem Kulturneuling oder Fremden nicht so schnell, weil sie
nicht explizit gehandhabt werden.“ (A.a.O., S. 7, vgl. auch E. T. Hall) Das
Wissen über einzelne Länder, Regionen, Religionen u.ä. sollte man sich
natürlich so weit wie möglich aneignen, diese Orientierungshilfen sind sehr
wertvoll. Ein Münchner Verlag hat sogar eine Reihe über einzelne Länder wie
Türkei, Vietnam, Frankreich etc mit dem bezeichnenden Titel „Kulturschlüssel“.
herausgebracht (vgl. Moir). Reisende und Menschen mit längerem
Auslandsaufenthalt haben natürlich einen Vorsprung an ‚interkultureller
Kompetenz’. Es stellt sich sogar die Frage, ob ein längerer Auslandsaufenthalt
(für einen Autochthonen ohne Migrationshindergrund oder persönlichem
Minderheitenbezug) nicht sogar das eigentlich Konstituierende für die
‚interkulturelle Kompetenz’ wäre (vgl. Schramkowski S. 55). Denn durch das
längere ‚Wegfahren’ erkennt man sehr viel ‚Eigentümliches’ am ‚Zuhause’.
Umgekehrt haben Menschen nichtdeutscher Herkunft natürlich nicht automatisch
oder allein auf Grund ihrer Herkunft schon ‚interkulturelle Kompetenz’ per se.
Studentinnen und Studenten der Pädagogik, der Sozial- und Geisteswissenschaften
und anderer Studienrichtung wäre zu raten, mindestens ein Semester im
nicht-deutschsprachigen Ausland zu verbringen. So wie ein heranwachsender
Jugendlicher einen längeren Prozess der ‚Sozialisation’ oder ‚Enkulturation’
durchmacht, so wäre zu wünschen, dass die zukünftig im Alltag im interkulturellen
Zusammenleben Verantwortung tragenden Menschen im Rahmen ihrer Ausbildung einen
‚Prozess der interkulturellen Sozialisation’ (‚Interkulturation’)
durchschreiten. Dies fängt bei interkulturellen Fragestellungen in der Ausbildung
von Erzieher/innen an und könnte z.B. auch die Etablierung eines freiwilligen
„sozialen Jahres in Europa“ oder ähnliches sein. Letztendlich ist wohl auch die
persönliche Begegnung – besser noch Freundschaft – mit Menschen anderer
‚kultureller Orientierungen’ der beste Weg, den eigenen Horizont zu erweitern.
Ein
wesentlicher und unveräußerlicher Kern von ‚Kultur’ ist die Sprache. Sie ist
der konkret wahrnehmbare Teil des „kulturellen Eisbergs“ (E. T. Hall) der
menschlichen Interaktion. Während die nonverbale Kommunikation sich oft ‚hinter
den Kulissen’ oder im ‚Zwischenraum’ abspielt, ist die artikulierte Sprache
offensichtlich. Sprache ist „als Laut gewordene menschliche Beziehung selbst
...“ (Elias, S .249), sie ist eine wesentliche Form der menschlichen
Vergesellschaftung. Über die Sprache (gesprochene Sprache, Gebärdensprache
u.ä.) werden wir gesellschaftsfähig. Diesen Prozess der Sozialisation macht
jedes einzelne Individuum durch, so wie auch die Menschen in einem langen
Prozess der Zivilisation die Verhaltensweisen sublimiert haben. „Die Sprache
ist eine der zugänglichen Manifestationen dessen, was wir als
›National-Charakter‹ empfinden“ (Elias, a.a.O., S. 240). An der Sprache
erkennen wir einander oder wir bleiben uns fremd, wenn wir keine gemeinsame
Sprache finden. Sobald wir miteinander in Kommunikation treten, differenzieren
und beurteilen wir. In diesem Zusammenhang ist nach Wolfgang Hinz-Rommel die
Sapir-Whorf-Hypothese, die eine Weiterentwicklung der Humboldt’schen
Sprachphilosophie ist, von Interesse: „Ihr zentraler Gedanke ist es, dass
Sprache nicht nur ein Kommunikationsmittel ist, sondern dass im wesentlichen
Wirklichkeit über den Weg der Sprache wahrgenommen wird. Sprache bestimmt
grundsätzlich die Wahrnehmung der Kommunikation und gibt Kategorien für die
Analyse von Erfahrungen vor. In dem Maße, wie sich Sprachen voneinander unterscheiden,
werden auch die Wahrnehmungen differieren – und entsprechende Hürden für die
Kommunikation über diese Grenzen hinweg zu verzeichnen sein.“ (Hinz-Rommel, S.
51 f.) Marshall B. Rosenberg hat die Theorie der „Gewaltfreien Kommunikation“
entwickelt. Für die Mediation und für den Umgang mit Konflikten entwickelte er
einen ‚neuen Weg’ aufrichtig und einfühlsam miteinander umzugehen. Die
gesprochene Sprache „verrät“ auch häufig den/die Migranten/in. Ein Akzent ist
dabei nebensächlich. Sprache darf allerdings keine Kommunikationsbarriere sein,
sonst ist eine Verständigung nicht oder nur unzureichend möglich (Vgl. Ropers
S. 69). Im Gesundheitswesen kann dies z.B. fatale Folgen haben. Und wenn jemand
die ‚Lingua Franca’ gut beherrscht und zwei- oder mehrsprachig ist, hat er/sie
in der Regel die Grundlagen für mehrere ‚kulturelle Orientierungen’. Umgekehrt
bedeuten jedoch mangelnde (deutsche) Sprachkenntnisse von Menschen mit
Migrationshintergrund – insbesondere von Kindern nichtdeutscher Muttersprache –
Zugangsbarrieren für die schulische und berufliche Laufbahn (vgl. Popp 2002).
Am Erlernen der im Lande gesprochen Sprache kommt kein Mensch mit
Migrationshintergrund vorbei. Man kann Heribert Prantl nur zustimmen:
„Integration beginnt mit Sprache. Ohne die Sprache ist alles nichts. So lange
ein Türke, ein Vietnamese, ein Russland-Deutscher nicht deutsch kann – so lange
bleibt er fremd, welchen Aufenthaltstitel er auch immer hat.“ Ein türkisches
Sprichwort sagt sinngemäß: Ein Mensch, der eine Sprache spricht, ist ein
Mensch. Ein Mensch, der zwei Sprachen spricht, ist „zwei Menschen“
u.s.w. Die Zweisprachigkeit von Kindern aus Migrantenfamilien ist ein
unschätzbarer Wert und sollte eigentlich mehr gefördert werden. „Anerkennung
und Wertschätzung der Zweitsprachigkeit kommen zum Tragen, wenn sich auch Kinder
aus zugewanderten Familien mit ihrer Lebenswelt und ihren Erfahrungen im Kindergarten,
bei Themen, Aktivitäten (...) und im Tagesablauf wiederfinden und ihre
zweisprachigen Fähigkeiten als positiv erleben können.“ (Militzer, S. 58).
Sprach- und Kommunikationsförderung sollten insbesondere im Kindergarten sowie
in den Regelklassen der Schulen und nicht in Sonderklassen gefördert werden.
Für Personen,
die nicht aus einer Familie mit Migrationshintergrund kommen und sich
‚interkulturelle Kompetenz’ aneignen möchten, ist es durchaus ratsam, die eine
oder andere Fremdsprache zu lernen. Sprachkenntnisse erleichtern die Empathie.
Wir dürfen
die konkrete Situationsanalyse vor Ort (auf der Makroebene) nicht außer Acht
lassen. In der Einwanderungsgesellschaft haben wir es im Alltag oft mit
Menschen zu tun, bei denen die soziale Lage mit ‚ethnischer’ oder kultureller
Zugehörigkeit/Orientierung zusammenfällt oder gar die Situation verschärft
(Beispiel schulische Chancenungleichheit der Kinder nichtdeutscher
Muttersprache und die oft daraus folgende berufliche Perspektivlosigkeit).
„Interkulturelle Beziehungen sind fast durchweg durch Machtasymmetrie – Status
-, Rechtsungleichheit, Wohlstandsgefälle – gekennzeichnet.“ (Auernheimer, 2002,
S. 3) In vielen Einwanderungsländern wird die soziale Lage leider inzwischen
von der ‚ethnisch-kulturellen’ überlagert und z.T. auch negativ beeinflusst
(ähnliches gilt auch für Minderheiten beispielsweise in den USA). Dabei sollte
man immer aufpassen, die sozialen Disparitäten also solche zu erkennen und sie
nicht zu kulturalisieren oder zu ethnisieren. „Das eigentliche und zentrale
Machtgefälle wird heute weniger in einer Wert-Vertikalen, also in dem Gegensatz
von Oben – Unten gesehen als vielmehr primär in der Opposition von Innen –
Außen. Der gesellschaftskritische Diskurs kreist nicht mehr so sehr um die
Frage der Ausbeutung, sondern um die Frage der Ausgrenzung. (...) Dabei sind
‚innen’ und ‚außen’ oft kulturell unterschiedlich markiert – ‚innen’ steht für
die Gruppen, die in Asien, Afrika und Südamerika mit dem Signum ‚traditional’
assoziiert werden, in Europa und den USA mit dem Signum ‚Ghettokultur’,
‚Unterschichtskultur’“ (Schiffauer, S. 162 f.) Daher ist für Stefan Gaitanides
die Bearbeitung des Themas ‚Macht’ in interkulturellen Fortbildungen
unerlässlich: „Das interkulturelle Paradigma läuft Gefahr, sich auf die
horizontale Ebene bei der Reflexion von Kommunikationskonflikten zu beschränken.
Eine einseitige Fokussierung auf die kulturelle Dimension kann zur
Verschleierung der vertikalen Machtaspekte beitragen.“ (Gaitanides, S. 23).
Im Verlauf
der Migration verändern sich oft die Werte und ‚kulturellen Orientierungen’ der
Menschen. Manche assimilieren sich, viele durchlaufen einen Prozess der
Integration, andere radikalisieren sich vielleicht sogar im Widerspruch zu den
‚Interessen’ des Einwanderungslandes. Den Prozessen und Kräften der Veränderung
im Rahmen der Globalisierung entkommt niemand, gleichzeitig bilden sich aber
auch Gegenbewegungen, vor allem partikularistische Tendenzen (vgl. S. Hall S.
424 f). Wenn die Identitätssuche nicht zu einer Integration in die Gesellschaft
führt, kann die ‚kulturelle Differenz’ auch Grundlage und ideologische Quelle
für Partikularismus und Gettoisierung sein und zu Anfeindungen führen (vgl.
Meyer S. 17). Als „Reaktion auf Rassismus und Ausschließung“ findet häufig eine
strategische „Rückkehr zu defensiveren Identitäten in den Gemeinschaften der
Minderheiten selbst“ statt. „Solche Strategien beinhalten Reidentifikationen
mit der Herkunftskultur (...), die Konstruktion stärkerer Gegenidentitäten
(...) oder das Wiederaufleben eines kulturellen Traditionalismus, religiöser
Orthodoxie und eines politischen Separatismus in einigen Teilen der Gemeinschaft
der Muslime.“ (S. Hall, S. 433) In umgekehrter Schlussfolgerung heißt das: um
partikularistischen und fundamentalistischen Tendenzen entgegenzutreten, muss
man den Rassismus bekämpfen und sich für die politische, rechtliche und gesellschaftliche
Partizipation aller Menschen eines Landes einsetzen. (Vgl. Popp 1992, S. 38 f.)
Dazu wäre allerdings auch ein echter politischer Paradigmawechsel nötig.
Wir sollten
auch immer wieder die Forderung aufstellen (und dies auch selbst einlösen),
dass in Kindergärten, in Schulen, in den sozialen Regeldiensten und in anderen
öffentlichen Bereichen der Gesellschaft die Teams tatsächlich interkulturell –
d.h. vor allem auch mit ‚Fachkräften mit Migrationshintergrund’ – besetzt
werden, da nur so längerfristig die interkulturelle Zusammenarbeit
gewährleistet ist. Die Formel der ‚Ausländerpädagogik’ „deutscher
Sozialarbeiter – ausländisches Klientel“ ist überholt und veraltet. Nur wenn
sich die Regeldienste interkulturell öffnen, werden sie von den Menschen mit
anderen kulturellen Orientierungen ernsthaft wahrgenommen (vgl. Anderson,
Barwig/Hinz-Rommel und Jungk). Dies wäre ein Beitrag zur Nachhaltigkeit von
interkulturellen Verständigungsprozessen und zum Abbau undemokratischer
Machtstrukturen. Umgekehrt darf das aber nicht heißen, dass dann die
interkulturellen Fragen von dem/der nichtdeutschen Spezialisten/in bearbeitet
werden und sich die anderen Mitarbeiter/innen von der Thematik zurückziehen.
Interkulturalität könnte auch eine Art ‚corporate identity’ für das gesamte
Team werden. „ Man kann annehmen, dass die Veränderung des Leitbilds einer
Schule oder sozialen Einrichtung mit den entsprechenden Reformschritten auch
das Bewusstsein und die Wahrnehmung der Mitarbeiter/innen verändert. (...) Es
spricht alles dafür, dass zum Beispiel die Arbeit in einem multikulturellen
Team das Problembewusstsein für Rassismus und die Sensibilität für differente
Deutungsmuster schärft.“ (Auernheimer 2002, S. 15) Lange und Pagels warnen aber
auch vor der ethnozentristischen Dominanz, die nach ihrer Ansicht wohl “der
Regelfall ‚interkultureller Verhältnisse’ in der heutigen gesellschaftspolitischen
Wirklichkeit“ sei (Lange/ Pagels, S. 246). Sie schlagen vor, „den in dem
Begriff des Interkulturellen implizierten ‚Zwischen-Raum’ in einem politischen
Sinne ernst zu nehmen: Eine Politik der interkulturellen Öffnung ist eine
Politik, die den öffentlichen Raum ‚zwischen’ den unterschiedlichen
Lebensweisen vor Kulturalisierung schützt und ihn in diesem Sinne offen hält
für die Austragung der alltäglichen Konflikte“ (a.a.O., S. 15).
‚Interkulturelle Kompetenz’ und ‚interkulturelles Handeln’ sind ohne antirassistisches Bewusstsein wertlos. In den letzten Jahrzehnten hat sich allerdings ein Bezeichnungswandel der Thematik vollzogen. Während noch in den 70er Jahren das Konzept der „Ausländerpädagogik“ entwickelt wurde, um die Schulprobleme der „Gastarbeiterkinder“ zu beheben, ging man in den 80er Jahren zur „Interkulturellen Erziehung“ bzw. „Interkulturellen Pädagogik“ über, um ausländische und deutsche Kinder gleichberechtigt an die „multikulturelle Gesellschaft“ heranzuführen (vgl. Militzer u.a., S. 15). In den 90er Jahren lag ein Schwerpunkt der fachöffentlichen Diskussion aufgrund der Asyldebatte und der rechtsextremistischen Anschläge in der Antirassismus-Thematik (vgl. z.B. Miles, Memmi, Lanig) und andererseits bei Fragen des Wahlrechts sowie der doppelten Staatsbürgerschaft (vgl. Popp 1990). Inzwischen hat sich die Diskussion – so Birgit Rommelsbacher – erneut verschoben. „Sie ist weggegangen von Defizitbeschreibungen, von Rassismus-Diskussionen, von der Analyse politischer Konflikte, hin zu Fragen von Kompetenzen, Anreizen und der Frage, was die Beschäftigung mit der Thematik Positives bringt. Die Tendenz geht also eher dahin, positive Momente der Entwicklung herauszustellen. Das ist im Sinne von Akzeptanz und Verbreitung sicher eine wichtige Entwicklung. Trotzdem möchte ich kritisch anfragen, wie weit damit nicht zugleich auch ein Entpolitisierungsprozess stattfindet: wie weit hier nicht auch Konflikte ausgeblendet werden, und uns dann mit diesem Zauberwort ‚Interkulturelle Kompetenz’ ein Mythos angeboten wird, der als Lösung für alle Probleme, für alle Interessenskonflikte, alle politischen Fragen usw. auf einmal erscheint. Plötzlich wird Interkulturelle Kompetenz gewissermaßen zu einer Verheißung, die alle Probleme löst.“ (Rommelsbacher, S. 111 f.) Tatsächlich sind Interkulturalität und Antirassismus zwei Seiten der gleichen Medaille. In Deutschland spricht man nicht gerne von Rassismus, man bevorzugt weichere Begriffe wie Ausländer- oder Fremdenfeindlichkeit. An dieser Stelle soll nicht die Rassismusdebatte geführt werden, wichtig für unseren Diskussionszusammenhang ist allerdings, dass wir uns mit den Formen von Ausgrenzung, Diskriminierung und Vorurteilen beschäftigen müssen. Dabei sollten wir „Fremdheit“ nicht als etwas „Natürliches, Feststehendes“ ansehen, sondern „als etwas Konstruiertes, als ein Verhältnis zwischen den jeweils Beteiligten“ (Kalpaka, S. 77) Ein interkulturelles Training z.B. mit Schülerinnen und Schülern ist ohne Behandlung von Themen der Diskriminierung und des Rassismus gar nicht vorstellbar. Der Pädagoge Wunibald Heigl entwickelte in München Anfang der 90er das Projekt „ART“ für Schülerinnen und Schüler („ART“ steht dabei für Anti-Rassismus-Training). In Seminaren und Projekten werden Schüler/innen und (Sozial-)Pädagogen/innen als Multiplikatoren/innen bzw. antirassistische Trainer/innen ausgebildet. Dabei wird von einem ganzheitlichen Ansatz der „Erziehung gegen Rassismus“ ausgegangen, das bedeutet „die Verbindung von emotionalem und kognitivem Lernen, das sich abwechselt, gegenseitig ergänzt und so die Voraussetzung schafft, für neue soziale Kompetenzen im Umgang mit Fremden“ (ART). In der Materialsammlung (inzwischen heißt sie ‚ART-Koffer’) befinden sich Videos über Neonazis, Foto- und Foliensätze mit wichtigen statistischen und politischen Informationen, CD-ROMs, Spielmaterial, Texte zu Plan- und Rollenspielen, Sketchen etc. Basis der antirassistischen Trainings sind u.a. die Konzepte von Betzavta (Miteinander) des Adam-Instituts, Jerusalem, des Programms 'A World of Difference' der Anti-Defamation-League, New York (Eine Welt der Vielfalt) sowie Konzepte zu ‚Demokratie und Toleranz’. Ähnlich wie ART geht auch das 2001 gegründete „Netzwerk interkulturelle Kommunikation und berufliche Integration“ (Xenos Nürnberg) vor: „Im Zentrum der Arbeit stehen interkulturelle Trainingsmaßnahmen, die Jugendlichen an der Schwelle Schule - Beruf sowie Beschäftigten und Arbeitslosen über die Verbesserung der sozialkommunikativen Kompetenz den Berufseinstieg bzw. die berufliche Integration erleichtern sollen. Dadurch wird die Handlungskompetenz einer großen Zahl von Bürger/innen für das interkulturelle Zusammenleben in Nürnberg erhöht und dem Rassismus wirksam begegnet. Ein besonderes Augenmerk gilt benachteiligten, vom Rassismus betroffenen und für nationalistisches Gedankengut besonders anfälligen Menschen. Das interkulturelle Training wird ergänzt durch Seminare für Multiplikator/innen in den drei Arbeitsfeldern Schule, Maßnahmen für benachteiligte Jugendliche sowie betriebliche und außerbetriebliche Bildungsarbeit. Für Nachhaltigkeit bürgt auch die Ausbildung einer Gruppe von interkulturellen Trainer/innen.“ (Xenos Nürnberg/ Kurzbeschreibung) Wo ist da der Unterschied zwischen interkulturellem Training einerseits und antirassistischem andererseits? Es ist beides zugleich, da es sich um eine sozialkommunikative Kompetenz handelt. Die soziale Kompetenz ist eigentlich der Überbegriff (vgl. Breitkopf/ Schweitzer, S. 42 f.). Die Verfasser/innen des Konzepts des Nürnberger Netzwerkes, zu denen der Autor dieser Zeilen zählt, gingen dabei bewusst von dem Begriff ‚Antirassismus’ weg – so wie es Rommelsbacher in ihrer Kritik formulierte – und drückten mit dem Projektnamen „Netzwerk für interkulturelle Kommunikation“ eine positive Zuschreibung aus. Entscheidend für das Projekt ist jedoch, dass von einem ganzheitlichen Ansatz von Interkulturalität ausgegangen wird, dass – wir oben formuliert – die Lebenswirklichkeit der Menschen einfließt. Das heißt, Konflikte, politische und gesellschaftliche Diskriminierung und Ungleichheit, Ausgrenzung, Intoleranz und Vorurteile werden zusammen mit den Jugendlichen thematisiert und diskutiert. Es geht auch gar nicht anders, da die interkulturellen Pädagogen/innen bzw. Trainer/innen oft vor Klassen stehen, in denen die Mehrzahl der Schüler/innen selbst aus Familien mit Migrationshintergrund kommt. Da stehen Fragen der Diskriminierung, der sozialen und rechtlichen Ausgrenzungsprozesse, der politischen und gesellschaftlichen Partizipationsverweigerung und des Rassismus fast automatisch auf der Tagesordnung.
Während Anita
Kalpaka auf den Begriff ‚interkulturelle Kompetenz’ ganz verzichten möchte,
greift Dieter Kleine ihren Denkansatz auf und umschreibt ‚interkulturelle Kompetenz’
als: „Kompetentes Handeln in der Einwanderungsgesellschaft“ (Kleine, S. 23)
Krummacher ergänzt diese Sichtweise: „Interkulturelle Kompetenz ist eine
Grundqualifikation, die wir heute eigentlich von den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern aller Dienste und Einrichtungen erwarten müssen. Sie sieht sich –
im Rahmen einer demokratisch verfassten, pluralistischen und sozialstaatlichen
Gesellschaft – den Leitbildern Förderung von Chancengleichheit, möglichst
weitgehende Gleichberechtigung, Respekt vor Anderssein, interkultureller
Austausch und Partizipation verpflichtet.“ (Krummacher, S. 162 f.) Im Einzelnen
erfordere dies von den Mitarbeitern/innen sozialer Berufe: Sachkompetenz,
Beratungskompetenz, Konfliktfähigkeit und Sprachkompetenz (d.h.
Verständigungsfähigkeit in einer der Herkunftssprachen der Zuwanderer). Für
Anette Hammerschmidt ist ‚interkulturelle Kompetenz’ v.a. die persönliche Fähigkeit,
„dass ich mich in einer mir fremden Welt orientieren kann, wie ich es in der
mir vertrauten mehr oder weniger erfolgreich tagtäglich tue. Im Unterschied zu
Wissen, erweisen sich Kompetenzen in der Art, wie wir wahrnehmen, denken und
handeln.“ (Hammerschmidt S. 3) Als wichtigste Fähigkeiten sieht Hammerschmidt
kommunikative Kompetenz, Kontaktfreude, Ambiguitätstoleranz, Unsicherheits-
bzw. Stresstoleranz, Handlungsflexibilität, Unvoreingenommenheit, Empathie,
Identitätssicherheit, Umgang mit Komplexität und Perspektivwechsel. Zu den
persönlichen Fähigkeiten könnte noch die „Treibsandtauglichkeit“ gezählt
werden, eine Kompetenz, die Betty Zucker von einem modernen Wirtschaftmanager
fordert. Es ist die Kompetenz, sich auch bei permanenten Turbulenzen zu bewegen,
d.h. wie auf Treibsand zu laufen und „Laufen lernen beim Laufen“ (Zucker, S.
3). Martin Kronauer weist darauf hin, dass ‚interkulturelle Kompetenz’ für
Migranten etwas anderes bedeute als für Einheimische (Kronauer, S. 217). Die
nötige interkulturelle Kompetenz für Erstere sei zunächst, die Sprache der
Mehrheitsgesellschaft zu lernen sowie sich berufliche und gesellschaftliche
Qualifikationen anzueignen. Dabei könne die eigene kulturelle Identität gewahrt
werden. Auf deutscher Seite hingegen erwartet Kronauer nicht nur
‚interkulturelle Verständigung’, sondern auch die Bereitschaft, Privilegien
abzugeben. „Interkulturelle Kompetenz ernst genommen, kann Deutsche für die
Lage der Migranten sensibilisieren. Der Begriff kann aber auch zur Floskel
werden, die ablenkend auf Kultur verweist, wo eigentlich soziale Ungleichheit
und deren Beseitigung zur Debatte steht.“ (Kronauer, S. 218) Gaitanides
versteht unter ‚Interkultureller Kompetenz’ in Bezug auf die Sozialarbeit
einerseits ‚interkulturelle kognitive Kompetenz’ mit den entsprechenden
Kenntnissen über Herkunftsgesellschaften, Herkunftssprachen,
Migrationsprozesse, Integrationsprobleme etc. als auch ‚interkulturelle
Handlungskompetenz’ mit Empathie, Rollendistanz, Ambiguitätstoleranz und
kommunikativer Kompetenz (vgl. Gaitanides, S. 16). Da es schwer möglich sei,
„ein halbwegs fundiertes Wissen über die zahlreichen Herkunftsländer und
Einwanderer-‚Communities’ zu sammeln“, versteht er die Entwicklung von
Handlungskompetenz als einen lebenslangen Lernprozess. „Fachkräfte mit
entwickelter Handlungskompetenz, die Ungewissheiten aushalten können, die sich
durch Fremdheitserfahrungen, Mehrdeutigkeiten und Widersprüche nicht aus dem
Gleichgewicht bringen lassen, die sowohl der distanzierten Selbst- wie
Fremdwahrnehmung fähig sind, die den kulturell und sozial ‚Anderen’ Akzeptanz
und Wertschätzung entgegenbringen können ohne die eigene Identität aufzugeben,
die in der Lage sind, sich empathisch einzufühlen, zuzuhören, Fragen zu
stellen, sind auch bei Sprachschwierigkeiten und mangelhaften kulturellen
Hintergrundkenntnissen in der Lage, eine Vertrauensbeziehung zur
Migrantenklientel aufzubauen und sie zu Experten ihrer selbst zu ‚ermächtigen’.“(Gaitanides,
S. 10 f.) Nach Gaitanides solle man sich mit kulturtheoretischen
Deutungsmustern beschäftigen. „Was die Vermittlung von kulturellen Hintergrundwissen
anbetrifft, unterscheide ich mich von den radikalen Konstruktivisten im Berufsfeld
und der Wissenschaft, die meinen, der Schleier des Nichtwissens sei manchmal
für den unbefangenen Umgang mit Menschen anderer Kulturen und Subkulturen und
die Erforschung ihrer Lebenswirklichkeit besser als typisierendes Vorwissen
(u.a. Diehm/ Radtke 1999). Professionelle Interventionen ohne lebensweltliche
Kenntnisse, ohne die Kenntnis der sozialen Lagen, der Gruppenidentitäten und
subkulturellen Bewältigungsstrategien können wohl kaum zum Erfolg führen.“
(Gaitanides, S. 11) Allerdings solle man „bei den wissenschaftlichen
reflektierten Deutungsmustern auch immer die Typisierungsgefahr im Auge
behalten“ (a.a.O., S. 12). „Interkulturelle Arbeit ist Übersetzungsarbeit in
kulturellen Überschneidungssituationen mit dem Ziel, interkulturelle
Missverständnisse zu verringern und Partizipationsmöglichkeiten zu erhöhen“,
meinen Sabine Handschuck und Hubertus Schröer (Handschuck/Schröer, S. 25 f.).
Hinz-Rommel stellt zur englischsprachigen Literatur zur interkulturellen
Handlungs- und Kommunikationskompetenz kritisch fest, dass die strukturelle
Seite interkultureller Handlungskompetenz ungenügend oder gar nicht reflektiert
werde (Hinz-Rommel, S. 61) Neben dem kulturellen Bewusstsein (‚cultural
awareness’) müsse notwendigerweise auch ein institutionelles bzw. politisches
Bewusstsein treten, um die strukturell verankerten Formen von Diskriminierung
und Rassismus aufzudecken. Interkulturelle Kompetenz kann nicht in einem
‚Crashkurs’ angeeignet werden, sondern nur in einem längerfristigen und
dauerhaften Lernprozess. Hinz-Rommel sieht in den Überlegungen von Otto Filzinger
und Ellen Johann für ein „interkulturelles Curriculum“ im Bereich der interkulturellen
Pädagogik ein weitgehendstes Programm und die Möglichkeit der Übertragung auf
andere Bereiche (zitiert nach Hinz-Rommel, S. 68 f.), die Lernbereiche und Inhalte/Lernziele
sind:
„1. Grundlagenwissen
Migration, Multikulturelle Gesellschaft, Sozialisation, Sprachentwicklung/Zwei-
und Mehrsprachigkeit, Identitätsentwicklung, Länder-/Kulturkunde,
Vorurteile/Rassismus, Ausländergesetz, Pädagogische Konzepte, Religion
2.
Persönliche und fachliche Kompetenzen und Einstellungen:
Einfühlungsvermögen/Empathie, Selbstreflexion, Offenheit,
Kooperationsfähigkeit, Toleranz, Konfliktfähigkeit,
Fantasie/Experimentierfreude, Kommunikative Kompetenz
3. Methoden
und Fertigkeiten
Theatralische Darstellung, Projektmethode, Sprachförderung, Musik und Rhythmik
aus verschiedenen Kulturen, Zweisprachiges Erzählen, Spiele aus verschiedenen
Kulturen, Feste aus verschiedenen Kulturen, Handwerk aus verschiedenen Kulturen
4. Praktische Auslandserfahrung
Praktikum, Hospitationen, Studienfahrt für Fachkräfte (...), Multilaterales Seminar
für Fachkräfte (...)
5. Sprachkenntnisse
Sprachkenntnisse in einer Fremdsprache auf Konversationsniveau.“
Für Valentina Veneto Scheib ist interkulturelle Kompetenz „mehr als Wissen über jemand und mehr als eine Technik; sie ist auch und vor allem eine Haltung, die ihren Ausdruck gleichermaßen im Denken, Fühlen und Handeln und ihre Verankerung in entsprechenden Lebenserfahrungen und ethischen Prinzipien hat“ (zitiert bei Simon-Hohm, S. 41). Hildegard Simon-Hohm versuchte die Diskussion um die ‚interkulturelle Kompetenz’ zusammen zu fassen und bringt folgende Definition ein: „Interkulturelle Kompetenz ist ein komplexes Bündel von Kompetenzen, das Reflexionsvermögen und Handlungsfähigkeit in kulturellen Überschneidungssituationen ermöglicht. Interkulturelle Kompetenz umfasst ein Repertoire an kognitivem Wissen und individuellen, persönlichen Fähigkeiten. Interkulturelle Kompetenz bedeutet dieses Bündel von Teilkompetenzen in unterschiedlichem kulturellen Kontext situationsgerecht und professionell einzusetzen und mit ethischen Reflexionen verknüpfen zu können.“ (Simon-Hohm, S. 41) Politische Aspekte spricht Rommelsbacher an: „Interkulturelle Kompetenz ist die Offenheit, sich anderen Lebenswelten zu öffnen, ist Sensibilität für sich und für andere, ist das Wissen über die eigene Normalität, (...) und vor allem ist Interkulturelle Kompetenz die Fähigkeit, die anderen als gleichwertig zu akzeptieren.“ (Rommelsbacher, S. 113) Auch Auernheimer formuliert seine Ansprüche an interkulturelle Kompetenz profund. Angesichts der politischen und sozialen Zusammenhänge sind für ihn folgende Haltungen und Fähigkeiten nötig: “Mitarbeiter/innen pädagogischer und sozialer Institutionen
Schließlich ist gerade auch für interkulturelle Kontakte Humor zu empfehlen, verstanden als Distanz sich selber gegenüber und als heitere Gelassenheit, nicht zuletzt beim Aufmerksamwerden auf beiderseitige Stereotypen.“ (Auernheimer 2002, S. 17)
‚Interkulturelle
Kompetenz’ heißt, sich vielfältige Kenntnisse anzueignen, den Überblick auch im
Unübersichtlichen zu bewahren, die politischen und gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen im Auge zu behalten, die Menschen zu beobachten ohne gleich
zu bewerten, ihnen zuzuhören, auf ihre Gefühle und Bedürfnisse Rücksicht zu
nehmen und einfühlsam miteinander zu kommunizieren – ohne dabei den Anderen
nach dem Munde zu reden. ‚Interkulturelle Kommunikation’ bedeutet offene
Begegnung mit mir selbst und mit den Anderen.
Friedrich Popp
Geschäftsführer des Ausländerbeirates der Stadt
Nürnberg,
Mitbegründer des „Netzwerkes für interkulturelle Kommunikation und berufliche
Integration/ Xenos-Nürnberg“
und des „Netzwerkes interkulturelle Mediation“
Literatur:
Philip
Anderson, Interkulturelle Kompetenz und die Öffnung der sozialen Dienste. Eine
Studie des Sozialreferates der Landeshauptstadt München, München 2000
ART, Anti-Rassismus-Training, http://home.link-m.de/art/
Georg
Auernheimer, Notizen zum Kulturbegriff unter dem Aspekt der interkulturelle
Bildung, in: Marion Gemende/ Wolfgang Schröer/ Stephan Sting (Hrsg.), Zwischen
den Kulturen, Pädagogische und sozialpädagogische Zugänge zur
Interkulturalität, Weinheim, München 1999
Georg
Auernheimer, Interkulturelle Kompetenz – ein neues Element pädagogischer
Professionalität? In:
www.uni-koeln.de/ew-fak/Allg_paeda/int/pub/ik_kompetenz.html (2002)
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Breitkopf/ Helmut Schweitzer, Was kann interkulturelle Kompetenz in kommunaler
Verwaltung und Gemeinwesenarbeit bewirken? Das Beispiel der Stadt Essen. In:
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Jörg Calließ
(Hrsg.), Agenda für den Frieden: Interkulturelle Mediation, Loccum 1999
Isabell
Diehm/ Frank-Olaf Radtke, Erziehung und Migration. Eine Einführung, Stuttgart
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Dünya, Kein
echter Anatolier mehr. Ein Gespräch mit Autor Feridun Zaimoğlu, Dünya
Deutschland, deutschsprachige Beilage der türkischsprachigen Wochenzeitung,
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